Gedanken zur Performance "Stillness is monochrome?"
20. Juli 2018, Schloss Cobenzl
"Der ganze Körper ist von einer Flügelspitze zur anderen nichts als ein Gedanke."
(Die Möwe Jonathan)
Aber welcher?
Ich bin eine katholische Theologin. Die Sprache des Symbolischen ist mir nicht fremd. Auch
nicht die Erfahrung, dass sich Geist inkarniert, zu Bild, zu Fleisch, zu Leib, zu Tanz wird.
Aber als Theologin bedarf ich des deutenden, erschließenden Wortes. Denn Bild, Fleisch,
Leib – das Symbolon, das Geist und Materie verbindet, ist immer mehrdeutig. Was also
erzählt mir die Performance, in der ich mich da vorfinde? Ich benötige einen Schlüssel. Ein
Wort.
Also orientiere ich mich an dem Text, den die wunderschöne, kerzengerade Margit liest. Ein
Text aus einem Buch, dem ich immer ausgewichen bin. Zu fremd, zu verwirrend schien es
mir, als ich es vor Jahren zu lesen begann. Ein Buch, an das ich jahrelang nicht gedacht
habe – und das mir vor einigen Tagen ein guter Freund zu lesen empfohlen hat als Hilfe bei
einer Frage, die mich umtreibt: die Frage nach dem Bösen. Länger schon frage ich mich mit
Blick auf die aktuellen globalen und europäischen Entwicklungen, wie es nach zwei
Weltkriegen, 55 Millionen Kriegsopfern, 6 Millionen ermordeten Juden möglich ist, dass die
Medusa des Menschenhasses wieder ihr Haupt erhebt. Unterschätzen wir die Macht des
Bösen? Was ist das Böse? Welche Wirklichkeit kommt ihm zu?
Und da ist schon eine Erscheinungsweise von ihm. Margit liest aus "Meister und Margarita",
ein komplexer Roman, in dem der Teufel als schwarzer Magier in das vom Bürokratismus
des kommunistischen Russlands beherrschte Moskau kommt. Eine sympathische Gestalt.
Sie erlöst den Meister und Margarita.
Margit mit dem ähnlichen Namen erwähnt Asasel, den
Wüstendämon, dem im Ritual zu Jom Kippur – dem jüdischen Versöhnungstag – die
Sünden, die einem Ziegenbock aufgeladen werden, übergeben werden, damit Israel wieder
frei sein kann von Schuld und Sünde. Das ist ein ziemlich zentraler Kern der biblischen
Botschaft. Gott und die Menschen können sich versöhnen. Für Christen wird dann Jesus
dieser Sündenträger sein. Und all das steht, besser tanzt da jetzt im Schloss Cobenzl. Ich
bin verwirrt. Tanz als Versöhnung?
Nach dieser Performance weiß ich, warum mich dieses Buch so schwer irritiert hat. Warum
ich auch erst einen Zugang zu dieser Performance bekam, als ich nächtens daheim zu
recherchieren begann, worum es in "Meister und Margarita" überhaupt geht. Margit hat
etwas vom Bösen verstanden, das ich im Zusammenhang mit dem Bösen bisher völlig
ausgeblendet hatte. Und sie hat es mir mit ihren Künstler-Freunden auf tänzerische Weise
erklärt.
Man kann das Böse wegtanzen. Man kann ihm davon tanzen. Entscheidend sind
spielerische Leichtigkeit, in Bewegung Bleiben, Begegnung und Kontakt, und nicht zuletzt die
Liebe. Margarita ist die Liebende. Dass auch Margit eine wahrhaft Liebende ist, weiß ich
schon lange.
Aber da sind noch andere "Botschaften", die nur die Kunst erzählen kann.
"Meister und Margarita" beinhaltet ein paar steile "Thesen".
Die Realität ist Fiktion. (Zu Zeiten Michail Bulgakows der bürokratische Totalitarismus. Er ist
ein kollektives Wahnsystem, eine Verblendung.)
Real hingegen sind Kunst und Literatur. (In dem Roman die Erzählung rund um Pontius
Pilatus und den guten Menschen Jeschua Ha Nazri.)
Das Böse ist eine geschöpfliche Wirklichkeit, Gott nicht dualistisch gegenübergestellt, aber
eine Mitwirkung an der Erlösung des Menschen. (Im Roman verhilft der Teufel den beiden
Liebenden zur Erlösung.)
Mit diesen drei Schlüsseln im Hintergrund sehe ich die Performance im Nachklang in ihrer
Tiefe.
Drei exemplarische Erfahrungen, die sich mir mithilfe dieser Thesen eröffnet haben:
1. Die Ordnung des Raumes. Als ich den Aufführungsraum betrete, finde ich mich nicht
zurecht. Dieser Raum hat kein Zentrum. Was ist da Bühne? Wohin kann ich mich setzen und
zusehen? Ja, es gibt ein paar Sesselreihen, die eine Art Bühne umrunden, aber der
Kameramann, steht anderswo. Und der weiß ja, was kommt. Sind diese schönen Couch-Anordnungen
eine Einladung zum Niederlassen oder sind die Tabu? – Ich, die ich gerne
Kontrolle habe, in jedem neuen Raum sehr rasch das Zentrum und damit die Machtordnung
wahrnehme und sie im Blick haben will, ich finde da keinen Anker. Das irritiert mich. Endlich
finde ich einen Platz, bei dem ich zumindest fast alles im Blick habe. Aber selbst da werde
ich dauernd aufstehen müssen, wenn ich alles sehen will. Dauernd wird mir jemand davon
tanzen – oh, sagte ich nicht, dem Bösen davon tanzen? Tue ich hier Böses? Ja, ich will
fixieren. Die Situation im Griff haben. Die beste Position ist in der Nähe des Kameramannes,
der muss die Geschichte ja kennen und kann nicht wie ich dauernd suchen müssen. Blöd
nur, dass es zwei Kameramänner sind. Immerhin: Der Platz, den ich dann finde, ermöglicht
mir zu sehen, dass – während die Musik spielt – Margit schon längst vor dem Schloss tanzt.
Das ist voller Ironie: Ich sehe lauter Menschen, die auf Tänzer warten und in den Raum
starren, bis etwas passiert. Aber es passiert schon längst. Nur anderswo. Nur ganz wenige
nehmen das wahr. Das sehe ich von meinem Macht-Platz aus. Immerhin, ganz unbeweglich
bin ich nicht. Unbeweglichkeit, der Beginn allen Übels. Die Suche nach dem Zentrum, die
blind macht. Das Fügen in eine Ordnung, die vorgegeben ist.
2. Ich erlebe Kunst. Und mit Bulgakow ist dies die eigentliche, die wesentliche Realität in
einer verkehrten Wirklichkeit. Real – das sind die Körper, die tanzen. Die Kunst macht es
möglich, die Realität dieser Körper wahrzunehmen, genauer als sonst je. Ich sehe und
studiere jede Bewegung, jeden Muskel, Tänzerin und Tänzer sind reduziert auf das
Wesentliche. Niemals könnte ich im realen Leben die reale Margit so lange ansehen und
schön finden wie im Rahmen der Kunst, dieser Kunst. Es wäre peinlich. Der Rahmen der
Performance ermöglicht mir die Realität der Körper zu studieren. Körper in Bewegung, die
sich mir aufgrund des räumlichen Settings aber unentwegt entziehen. Dem Bösen muss man
davon tanzen. Was ist tanzen eigentlich? Nur Menschen können tanzen.
3. Die Performance reflektiert das Verhältnis von Bild und Bewegung. "Du sollst Dir kein Bild
machen!", fällt mir ein.
Auch diese Kurzfassung des ersten Gebotes deutet auf etwas Böses, denn wer sich ein Bild von Gott oder seinem Abbild,
dem Menschen macht, legt ihn fest, legt sich selbst fest. Von jemandem, der tanzt, ist es schwierig, ein Bild
festzuhalten. Tanz ist eine Form, die nichts festhält. Eine Kunst, die nur "ist", indem sie
geschieht. Auch der Rahmen, den der Tänzer trägt und in dem er sich selbst hält, macht dies
sichtbar. Wer nicht aus dem Rahmen fallen darf, kann nicht tanzen. Er ist gekrümmt.
Verkrümmt. Martin Luther hat den Sünder einmal beschrieben als homo incorvatus in se
ipsum. Der in sich selbst verkrümmte Mensch. Die Tänzerin wird ihn befreien. Ja, die
Tänzerin, nicht Margit. Die tanzende Margit ist eine andere als die, mit der ich im Kaffeehaus
sitze und mich unterhalte. Sie ist mir fremd, wenn sie tanzt. Und das ist gut, denn ich kann
mein Bild von ihr verändern.
"Durchbrecht die Beschränktheit Eures Denkens, und ihr zerbrecht damit auch die Fesseln
des Körpers."
(Die Möwe Jonathan)
Danke Margit. Du hast mir etwas Neues gezeigt.
Regina Polak, 2018